Diese Geschichte beginnt mit einem Mord. Laut überlieferter Legende aus Zeiten des Barock zog ein gewisser Glashändler durch die Gegend, die man später Böhmisch-Sächsische Schweiz zu nennen begann. Unterwegs von Růžová nach Srbská Kamenice überfielen ihn zwei Wegelagerer, schnitten ihm die Kehle durch, ohne jedoch Gulden in seinem mit Schmalz vergossenen Topf zu finden, wie man in der Gegend tuschelte. Dieser Händler hieß Christoph Riedel. Und gerade in seiner Person begann die unglaubliche Geschichte von elf Glasmacher-Generationen, die Geschichte eines des berühmtesten Glasmachergeschlechts – der Riedels.
Der berühmteste von ihnen war Josef Riedel, die sechste Generation dieses Glasmacher-Geschlechts, der die für diese Familie so typischen Eigenschaften, wie Unternehmergeist, Kalkül und Elan zur Perfektion brachte. Kein Wunder, dass er zum „Glasmacherkönig des Isergebirges“ aufstieg.
Er erblickte am 19. Dezember 1816 in Haindorf das Licht der Welt, das seit 1923 als Hejnice bekannt ist. Sein Vater hatte in diesem kleinen Städtchen ein Geschäft mit Kolonialwaren, aber er wäre kein Riedel gewesen, wenn er nicht Glasmaler gelernt hätte. Vierzehn Jahre später machte sich der junge Josef zu seinem Onkel Franz auf, den der Vater gebeten hatte, ihn in die Lehre zu nehmen. Er ging zu Fuß, über den Čihadlo und anschließend durch den tiefen, von Wasserfällen geschmückten Tannwassergrund (Jedlový důl) ins Tal der Kamnitz, bis zur Glashütte in Antoniwald. Josef hatte wahrhaft Glück, von Onkel Franz konnte er eine Menge lernen, er war nicht nur ein brillanter Glasgraveur, sondern auch ein tüchtiger Unternehmer. Josef gingen schier die Augen über, als ihn Onkel Franz durch die Glashütte führte und ihm all die glitzernden Bijouteriestangen und -stäbe und -steine, das Glas für die Glasdrücker, das Hohlglas, die hübschen Flakons zeigte… Das war die Welt, für die Josef geboren schien.
Onkel Franz begriff schon bald, dass sein Neffe ein echter Riedel ist – geschickt und einfallsreich. Er lernte so schnell, dass er ihn schon nach vier Jahren in die Glashütte in Wilhelmshöhe (Klein Iser, Jizerka) schicken konnte, um ihn hier – gerade mal neunzehnjährig – als Verwalter einzusetzen. Josef hatte sich bewährt, aber offen gesagt, welcher Neunzehnjähriger möchte nur für die Arbeit leben. Nun, er drehte sich gern nach Mädchen um. Eigentlich nur nach einem. Nach der hübschen, schlauen und zudem noch glasmacherisch beschlagenen Anna. Das hatte jedoch einen Haken – Anna Riedel war seine Cousine.
„Ist das eigentlich gottgefällig?“flüsterte Anna, als sie Hand in Hand berauscht am Saphirbach entlang schlenderten. Josef kniff die Lippen zusammen und stieß trotzig hervor: „Klar! Wie könnte eine solch große Liebe, wie unsere, Gott missfallen? Ich geb‘ dich niemals her, Anna, und sollte sich die ganze Welt gegen uns verschwören!“rief der der Jüngling mit blitzenden Augen und meinte es todernst, so wie es ein über die Ohren verliebter Zwanzigjähriger eben tut. Ihre anfänglich sorgfältig geheim gehaltene Liebe war mit der Zeit kaum noch zu verbergen. Und so fasste sich der inzwischen 25-jährige Josef ein Herz, trat vor seinen Onkel und hielt um die Hand seiner Tochter Anna an. Und Franz Riedel… willigte ein! Für die Familie war dies im Grunde genommen nur von Vorteil und genau genommen ist die Cousine ja keine Schwester…
Man schrieb das Jahr 1844, als der Tod für Franz Riedel kam. Und Anna wurde als Universalerbin eingesetzt. Allerdings war es Josef, der die Firmenleitung übernahm – eine grundsätzliche und glückliche Entscheidung, die Josef Riedel den Weg auf den Glasmacherthron ebnete. Vier Jahre später gebar ihm Anna seinen Sohn Hugo, dann brachte sie noch Wilhelm und Otto und letztendlich das Töchterchen Marie zur Welt. Zehn Jahre umwälzender Ereignisse – nicht nur in der Kinderstube, sondern vor allem in der Firma.
Josef Riedel war, wie sich bald herausstellte, mit unglaublichem unternehmerischem Talent gesegnet. Von Anfang an handelte er weise und weitsichtig, niemals stellte er den Tisch nur auf ein, sondern auf mehrere Standbeine, wohl wissend – Risikoverteilung ist das A und O des Erfolgs. Als erstes kaufte er die Glashütte in Polaun, dem heutigen Polubný. Ein geschickter Schachzug! Ein Jahr zuvor begann nämlich unter der Verwaltung und gelegentlichen persönlichen Aufsicht der Erzherzogs Stephan der Bau der kaiserlichen „Riesengebirgsstraße“ aus Reichenberg (Liberec) nach Trautenau (Trutnov), samt Anbindung an das mittelböhmische Straßennetz. Ein nahezu revolutionärer Wendepunkt für das hiesige Unternehmertum, aber Josef Riedel war einer der ersten, der dies zu nutzen wusste. Die Glashütte war kaum zwei Jahre alt, dennoch Josef sofort zu seinem Bilde umzubauen.
Dann aber griff auf dramatische Weise erneut der Tod in sein Leben ein und entriss ihm seine gerade mal 35-jährige Ehefrau, die sich nicht von der Geburt ihres Töchterleins erholt hatte. Josef arbeitete noch drei Jahre lang angestrengt an der Fertigstellung der Polauner Glashütte und als alles unter Dach und Fach war, zog er mit der Familie hierher um, um von hier sein wachsendes Glasimperium zu leiten.
Ein Jahr ging ins Land und Josef heiratete in Polaun (Polubný) ein zweites Mal. Diesmal ehelichte er Johanna, die Tochter des Oberförsters der Herrschaft Clam-Gallas, der damals auch Klein Iser (Jizerka) angehörte. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dies zumindest in gewissem Maße eine Vernunftsehe, bzw. ein geschickter unternehmerischer Trick war, denn sein neuer Schwiegervater konnte ihm den Erwerb von Holz aus den gräflichen Forsten sehr erleichtern. Und schenkt man bösen Zungen Glauben, so ähnelte Johanna Anna nicht im Geringsten und im Leben mit ihr erwartete Joseph wahrhaftig keine Idylle... Nun, der Zweck heiligt die Mittel…
Josef Riedel wusste – das Glasmacherhandwerk ist zwar eine traditionsreiche, nichtsdestotrotz auch äußerst unberechenbare Branche. So suchte er nach einem neuen Standbein für sein Imperium. Und da brauchte er gar nicht lange zu grübeln, es reichte sich umzusehen. Mit der verbesserten Verkehrsanbindung und dem technologischen Fortschritt erblühte eine Branche – die Textilindustrie. Gut – also Baumwolle, sagte sich Josef und begann eine sehr modern ausgestattete Spinnerei zu errichten. Kaum vier Jahre später war sie voll in Betrieb und produzierte 5000 Spindeln Baumwolle pro Tag, in den nächsten vier Jahren verdoppelte sich die Produktion noch.
Aber die Glasmacherei hatte auch weiterhin Priorität. Und Josef stellte sich schnell auf den aktuellen Trend ein. Die 60er Jahre waren ein Segen für die Herstellung und vor allem für den Vertrieb von Bijouterie. Josef baut augenblicklich eine neue Glashütte in Wurzelsdorf (Kořenov), nur ein Jahr später dann eine zweite in Klein Iser und erweiterte die bestehende um zwei weitere Öfen. Die Produktion zielte damals primär auf Bijouterie-Halbfabrikate und kleine Glaserzeugnisse ab, namentlich für Kunden in London, Wien, Berlin, Konstantinopel, Paris und Amsterdam.
Josef modernisiert die Betriebe – er verzichtet auf Holz und heizt fortan mit Gas. Er setzt einen nagelneuen, von Friedrich Siemens entwickelten Wannenofen mit regenerative Gasfeuerung ein – eine wahre Pioniertat. Dadurch gelingt es ihm, nahezu 50% Heizkosten einzusparen! Josef weiß – nur wer technologisch an der Spitze ist, kann die Schwankungen des Marktes überstehen. Als hätte er geahnt, was wenige Jahre später passiert.
Die 70er Jahre brachten nämlich ein völlig neues, unbekanntes Phänomen mit sich – die erste Weltwirtschaftskrise. Eine tiefe Depression, die den Träumen unzähliger Menschen ein jähes Ende bereitete. Mitnichten jedoch denen von Josef Riedel. Dieser dehnt sein Imperium sogar noch aus. Wieso? Zum einen steht sein Unternehmen auf soliden, jahrelang errichteten Grundpfeilern, zum anderen beginnt Josef angesichts der Vorzeichen der Krise zielbewusst zu investieren. Die Material-, vor allem aber die Energiekosten mussten deutlich gesenkt werden. Und so kauft er einen Braunkohlentagebau in Hostomice bei Teplice. Kurz darauf baut er eine Anschlussbahn aus Tannwald (Tanvald), um die Kohle effektiver nach Polaun (Polubný) transportieren zu können. Gibt es sonst noch irgendwelche boomenden Branchen? Ach ja – der Tourismus und das Kurwesen. So investiert Josef Riedel für manch einen überraschend auch in diesen Bereich, er kauft das Moorheilbad in Wurzelsdorf (Kořenov) und gründet hier ein modernes Kurhaus.
In jener Zeit mischen auch schon seine Söhne mit, die von ihrer Jugend an deutliches technologisches Talent beweisen. So entwickelt Wilhelm beispielsweise ein neues System zum Formen von Hohlglas mittels Druckluft. Auch der blutjunge Josef aus seiner zweiten Ehe verfügt über vielversprechendes Talent, das sich später in einem regen Erfindergeist manifestiert, er wird Autor mehrerer Erfindungen – unter anderem erweitert er die Farbskala auf sechshundert Farbnuancen und trägt zudem zur modernen Signaltechnik bei. Der älteste Sohn Hugo übernimmt die Leitung der Polauner Glashütte. Und wirft sofort einen neuen Artikel auf den Markt – in Polaun beginnt er mit der Herstellung von luxuriösem Hohlglas, das auf der Wiener Weltausstellung eine Goldmedaille erringt.
So kann sich Josef ungestört dem weiteren Wachstum seines Imperiums widmen. Im Laufe der nächsten zehn Jahre kauft oder baut er vier weitere Glashütten. Und er kauft schrittweise Grundstücke auf, 1882 gehören ihm allein in Polaun und dessen Umgebung mehr als zweihundert Lokalitäten. Als einer der ersten in Böhmen hat er einen privaten Telefonanschluss. Nur zwei Jahre nach Edinsons Patentierung der Glühbirne lässt er in seinen Fabriken elektrisches Licht installieren, um die Brandgefahr zu verringern.
Außerdem weitet er das Sortiment weiter aus – so beginnt er Fresnel-Linsen für Leuchttürme herzustellen. Unablässig führt er revolutionäre betriebliche und technische Neuigkeiten ein und vervollkommnet die Dekorierung von Glas. Die Farben benennt er nach seiner ersten Frau Annagrün und Annagelb – bis heute noch verwendete Begriffe.
Josef fühlt, dass es gerade jetzt seine Aufgabe ist, den Familienbesitz zu konsolidieren. Seine Söhne, nun auch Gesellschafter, nehmen die Zügel für den Gang des Unternehmens in die Hand, Josef zieht sich allmählich zurück. Vollauf zufrieden. Er hat ein Glasimperium aufgebaut, das seinesgleichen sucht. Er war zu einem der bedeutendsten Industriellen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie des 19. Jahrhunderts und Pionier moderner Formen des Unternehmertums aufgestiegen. Nie versuchte er, seine Konkurrenten mit Rabatten zu bezwingen, ganz im Gegenteil, er verkaufte die präzise Qualität seiner Erzeugnisse zu recht hohen Preisen. Für sein Lebenswerk wurden ihm hohe Auszeichnungen zuteil – das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens, ja der Papst verlieh ihm sogar den Orden vom Heiligen Kreuz. Er war auch in der Selbstverwaltung, in der Handels- und Gewerbekammer, in Dutzenden Handelsorganisationen und unzähligen Vereinen und Verbänden, im und außerhalb des Isergebirges aktiv. An der Jahrhundertwende beschäftigte er nahezu 1300 Menschen.
Als er im April 1894 nach kurzer Krankheit starb, kamen Scharen von Menschen zu seiner Beerdigung. Er wurde in der Familiengruft beigesetzt, die sein Sohn Wilhelm nach dem plötzlichen Tode seines Bruders Hugo nach Plänen des Reichenberger Architekten Adolf Bürger errichten ließ. Die Menschen weinten. Denn sie mochten ihren „Vater“, wie sie ihn liebevoll nannten. Er hatte sie immer fair behandelt. Er war ihnen ein anspruchsvoller, aber auch anerkennender Chef gewesen. Und da ahnten sie noch nicht, dass er sie auch in seinem letzten Willen bedacht hatte. Josef Riedel hinterließ mehr als 100 000 Gulden zugunsten seiner Beschäftigten, von Armen und Kranken. Der Glaskönig Joseph I.
Der König war tot, aber der Ruhm der Familie Riedel war ungebrochen. Die Ecksteine des Imperiums waren so fest, dass sie beiden Weltkriegen trotzten. Selbstverständlich nicht ohne strategische Opfer – Josephs Nachkommen verkauften die Textilfabrik, sie modernisierten die Glashütte und die gesamte Glasherstellung und setzten auch weiterhin auf die Erweiterung des Sortiments und moderne Technologien. Ihre Firmenkollektionen feierten Erfolge auf den Weltausstellungen in Paris und Brüssel und beteiligten sich maßgeblich am Aussehen des tschechoslowakischen Pavillons auf der Pariser Weltausstellung im Jahre 1937. Nach dem „Anschluss“ des Sudetenlandes an Hitlerdeutschland waren die Riedels gezwungen zur Kriegsproduktion überzugehen, aber auch das überstanden sie. Was aber sie aber nicht überstehen konnten, war die Nachkriegsentwicklung in der Tschechoslowakei. Eine der besten Glasmacherfamilien Europas musste das Land verlassen, in dem sie zwei Jahrhunderte gewirkt hatten.
Aber nicht einmal das sollte den Ruhm der Glasmachergeschlechts der Riedels brechen. Denn die Swarovskis, ihre einstigen nordböhmischen Nachbarn, nahmen sich ihrer an und halfen ihnen bei ihrem Neuanfang in Österreich. So konnten die Riedels eine Glashütte im Tiroler Kufstein kaufen und ihre jahrhundelangen Erfahrungen zu einer neuen Expansion nutzen. Sie konzentrierten sich auf mund- und später maschinell geblasene Weingläser. Als überhaupt erste auf der Welt kamen sie darauf, dass die Form des Weinglases den Geschmack des Weines beeinflusst und entwickelten so ein Konzept zur Herstellung unterschiedlicher Weingläser – zu jeder Weinkategorie ein Weinglas von spezifischer Form und Größe. Und so ist die Marke Riedel auch auf den Gegenwartsmärkten mehr als nur vertreten. Schon die elfte Generation verbreitet den Ruhm weiter, den Glaskönig Joseph seinerzeit begründete.