Der April steckte noch in den Kinderschuhen, die Bäume ließen sich vorläufig nur von Blättern träumen und nur hier und da standen schon ein paar Schlehen in voller Blüte. Vor der Filialkirche (Kapelle) St. Prokop in Zásada (Sasadl) drängte sich Kopf an Kopf eine große Menschenmenge. Alle fein angezogen wie beim Kirchgang, festlich Laune, manche recken sich auf den Zehenspitzen. Auf dem mächtigen, auf dem Dorfanger errichteten Podium vor der Kapelle bewegt sich der provisorische Vorhang. Und schon erschallt lauter und lang anhaltender Beifall. Vor den Vorhang tritt ein 85-jähriger Mann, auf einen Stock gestützt und dennoch in guter, aufrechter Körperhaltung. Mit einer Geste, die langjährige Theatererfahrungen verrät, verschafft er sich Ruhe.
„Euer Gnaden, hochgeschätzte Einheimischen und Auswärtigen, liebe Leut‘, hört zu, was ich euch zu vermelden habe“, spricht er mit seiner sonoren Stimme. „Man nehme uns nicht übel, dass wir an den festlichen, heiligen Ostertagen erschienen sind, um Ihnen dieses Stück vorzuführen und in einer kurzen Darstellung der bitteren Leiden unseres Herrn Jesu Christi zu figurieren gedenken.“
Das ist beileibe Jan Šourek, der langjährige Schultheiß von Zásada – Sasadl und Besitzer des Ausflugsgasthofes „U Jana“, ansonsten Händler mit Glas und Bijouterie, aber auch Leinenware! Ja, der gleiche, der anno 1749 auf eigene Kosten diese schöne Kapelle hat errichten lassen und der den Text dieses Osterspiels aus dem fernen Bayern mitgebracht und selbst ins Böhmische übersetzt hat und sich Jahr für Jahr demütig der unbeliebten Rolle des Judas Iskariot angenommen hat… Nun, inzwischen hat er nicht mehr die Kraft, die ganze Passion durchzuspielen, aber die Rolle des ‚Ansagers‘ würde ihm trotz seines hohen Alters niemand streitig machen wollen.
Wahrhaftig, in ganz Sasadl und dessen weiter Umgebung gäbe es Niemanden, der auch nur ein krummes Wort über Jan Šourek sagen würde. Denn mit ihm kamen Prosperität und Wohlstand in diese Gegend. Kaum hatte er das Schultheißenamt an sich genommen, begann sich das Leben im Dorf zum Guten zu wandeln. Er war einer der ersten, der es wagte, zu Geschäften in alle Welt zu reisen. Gut, mit Glas hatte man schon lange vorher Handel getrieben, aber nur in bescheidenem Maße. Es war ja auch schon zweihundert Jahre her, das hier ein gewisser Johann Schürer anno 1558 eine Glashütte gegründet hatte. Nun, nicht direkt in Sasadl, sondern im Nachbardorf Syřišťov (Hüttendorf), aber das ist ja kaum einen Steinwurf entfernt. Solange es genug Holz gab und die Hütte rauchte, ließen sich die Sasadler als Fuhrleute anheuern, aber nach und nach erkannten auch sie, was für ein teuflisch guter Artikel dieses Glas war! Und so begannen sie das Glas nicht nur zu kutschieren, sondern selbst einzukaufen, verzieren zu lassen und auf den Märkten feilzubieten – zuerst auf den nahen, aber schon bald auf immer ferneren. Als dann die Glashütte erlosch, war das Glas schon so tief in Sasadl verwurzelt, dass man sich erlauben konnte, es in anderen Glashütten einzukaufen – und das Geschäft florierte! Zu Zeiten von Schultheiß Šourek war Sasadl bereits zu einem echten Zentrum für Glas und Bijouterie aufgestiegen und konnte Gablonz (Jablonec) durchaus das Wasser reichen. Die Sasadler vertrieben ihre Ware in ganz Europa – in Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien, Spanien, ja sogar im Zarenreich, in Ägypten und Palästina. Für das eingenommene Geld und Glas kauften oder tauschten sie exotische und luxuriöse Waren. Diese verkauften sie dann wieder in den heimatlichen Gefilden. In Šourek‘s gewöhnlich brechend vollem Gasthof ging es zu wie beim Turmbau zu Babel – solch ein Sprachengewirr schallte durch die Gaststube. Nicht umsonst pflegte man hier zu sagen, das Weltende käme nicht eher, bevor nicht alle Sasadler wieder daheim wären…
Machen wir nun in unserer Geschichte einen Sprung in eine andere Zeit, ungefähr einhundert Jahre weiter. Wieder sind wir in Sasadl, wieder vor der St.-Prokop-Kapelle. Ostern ist in vollem Gange, aber Passionsspiele sucht man vergeblich. Mehr als ein Jahrhundert lang hielt diese Tradition an, das letzte Mal wurde anno 1859 gespielt. Die Tore der Kapelle stehen sperrangelweit offen – die Leute kommen zur heiligen Messe zusammen. Aber Moment mal – das sollen Dörfler sein? Die Frauen und Mädel behängt mit goldenem Schmuck, die Herren stolzieren wie Pfaue einher und sprechen sich mit hochtrabenden Titeln an – Herr Fabrikant hier, Herr Kaufmann da. Schau mal einer an, wieder einmal erleben wir die Sasadler in den fetten Jahren! Dennoch ist der Umzug irgendwie anders. Nach den Napoleonischen Kriegen und dem Bankrott des Österreichischen Kaiserreiches, als das Geld über Nacht achtzig Prozent seines Wertes einbüßte, war das Sasadler Geschäft mit Glas und Bijouterie am Boden. Was für die Ewigkeit bestimmt schien, war schlagartig weg. Die Gablonzer hatten sich beinahe ein Monopol errichtet, Zásada konnte nicht konkurrieren. Gut, sagten sie sich: verkaufen können wir nicht – produzieren allemal! Und machten sich an ein Werk, das Mitte des Jahrhunderts das ganze Isergebirge zu ergreifen begann – sie stellten Glasperlen her. Genauer gesagt – gehackte, bzw. gesprengte und geschliffene Glasperlen von runder oder zylindrischer Form mit einem Loch in der Mitte. Es begann bescheiden – in Heimarbeit. Allem voran brauchte man den Rohstoff – Glasstangen. Diese wurden in Glashütten hergestellt. Wer sich dafür interessiert hätte, wie solche eine Stange entstand, der hätte sich sicher sehr gewundert. Dazu brauchte man nämlich Geschick, eine starke Lunge und schnelle Beine. Und auch ein Quäntchen Glück. In der Glashütte wurde das Glas in Schamotte- oder Keramiktiegeln (Häfen) geschmolzen. Aus solch einem Hafen holte der Einbläser mit der Pfeife einen Batzen Glasmasse heraus und blies aus ihm einen sog. Kölbel. Nun hing alles von den schnellen Beinen des Gehilfen – des Glasziehers ab, der mit dem Posten durch den Ziehgang der Hütte rannte, der gerade zu diesem Zweck an die Glashütten angebaut wurde. Am Ende des Zieh- oder Laufganges angekommen, war das gezogene Glas ca. 60 Meter lang und glich einem dünnen Glasstrang. Aus diesem wurden dann 80 cm lange Stangerl bzw. Stengel gehackt, gebündelt und wanderten so zu den „Hackern“. Nun mussten sie noch in kleine Stücke gehackt werden, die Bissel genannt wurden. Sie wurden mit einem gewöhnlichen Eisenmesser gehackt. So wanderten sie in die einzelnen Hütten, wo ihnen die Schleifer die gewünschte, möglichst vollkommen runde Form verliehen. Dann tauchte die erste Verbesserung auf – das sog. „Zeug“, auch Klemperzeug genannt – eine einfache Hackmaschine mit einer Schleifscheibe aus Sandstein.
Neue und neue Verbesserungsideen machten das Hacken und Schleifen immer effektiver. Wäre da nicht die venezianische Konkurrenz gewesen. Nichts zu machen – die italienischen Perlen waren von besserer Qualität. Wie machen das die Glasmacher von der Inselgruppe Murano nur, zerbrachen sich die Sasadler den Kopf. Aber dann begann man gleich nebenan eine Eisenbahnstrecke zu bauen, dazu waren Geländearbeiten nötig, Tunnel mussten ausgebrochen werden und das brachte in ganz Europa niemand besser, als die „Baraber“. Und wo sie schon mal da waren – und ein paar Muraner aus dem Po-Delta waren auch dabei – gelang es den Sasadlern, ihnen die Finten ihrer glaserfahrenen Landsleute abzuluchsen. Und wie das in Böhmen nun mal ist – letztendlich übertrumpften die Sasadler die Venezianer sogar noch. Sie begannen die Perlen zweimal, ja dreimal zu schleifen und so entstand herrlich funkelnder Doppel- und Dreifachschmelz. In der Konjunktur Mitte der 60er Jahre verkaufte man sie waggonweise – in brillanter Qualität und überwältigender Farbskala. Den Sasadlern stiegen die Gewinne. Ein einfacher Hacker kam auf 16 Gulden die Woche, das war fast zweimal so viel wie ein Maurermeister und dreimal so viel wie ein Beamter.
Während wir die herumstolzierenden Sasadler Damen und ihre sich brüstenden Männer beobachten, sollte man den zeitlichen Kontext nicht vergessen – Österreich hatte gerade Frankreich zermalmt und die besiegte Großmacht war einer der Hauptkonkurrenten der Isergebirgs-Bijouterie. Die Nachfrage stieg wie durch Zauberhand aufs Doppelte. Ein Jahr reichte aus und jeder, der noch nicht hackte und schliff, gab sein Handwerk schnellstens auf und begann seinen Lebensunterhalt mit Glas zu bestreiten. Anfang des Jahres besaßen nur neun Hacker ein Klemperzeug, zu Weihnachten waren es schon einhundertsechzig! Und da standen in so mancher Hütte auch sechs Zeuge, die Möbel kamen auf den Dachboden, damit genug Platz für die Produktion war. Das Geschäft florierte! Nicht nur die Hacker und Schleifer kamen auf ihre Kosten, auch die Mädels – die Fädlerinnen. Diese konnten sich nach nur zwei Wochen Arbeit einen schicken Mantel kaufen – bei einem Wochenverdienst von 10 Gulden kein Problem. Zásada stieg wieder einmal zum Glas-Eldorado auf! Das Glasfieber erfasste auch die Umgebung, ja das ganze Gebirge. Die Leute schwammen in Geld und prassten, als sollten die fetten Jahre nie vorübergehen. Keiner sparte, alle gaben das Geld mit vollen Händen aus. Ladislav Stroupežnický, der wenig später sein Werk „Unsere Furianten“ schrieb, fand tausende Beispiele im ganzen Land.
Und so kam es, wie es kommen musste. Das Jahr 1873 und mit ihm die Weltwirtschaftskrise. Die Börsen brachen ein und zahllose Unternehmen gingen Pleite – Bijouterie? Wen interessiert das – wir haben andere Sorgen! Nun kehrte das Elend zurück – mit der Schnelligkeit eines galoppierenden Pferdes. Das Schwarzbrot, mit dem die Bergler groß geworden waren, kam nun nicht mehr in den Schweinetrog, sondern mit Danksagung wieder auf den Küchentisch – anstatt all der exotischen Gaumenfreunden und Leckerbissen. Wieder zog der Duft von Sauersuppe durch die Hütten, den die verwöhnten Emporkömmlinge schon fast vergessen hatten.
Weit gefehlt, wer glaubt, die Menschen hätten eine Lehre daraus gezogen. Als die Krise nach zehn Jahren verebbte und neuer Hunger nach Glasperlen aufkam, kehrten die Sasadler zu ihren alten Herrenmanieren zurück, als wäre nie etwas passiert. Zu alledem wiederholte sich die Geschichte mit den italienischen Arbeitern, die wieder ins Land kamen, um Stein für die Eisenbahn zu brechen, wieder plapperten sie neue Geheimnisse ihrer Landsleute aus und wieder waren die Sasadler oben auf, denn zu verbessern, was man anderswo erfunden hat, darin sind wir Tschechen echte Weltmeister! Wieder wurde Geld gemacht und umgehend verprasst. Nach uns die Sintflut. Kein Tag im Sasadler Gasthaus ohne Vergnügen. Und da die Sasadler eingefleischte Musiker waren, hatten sie eine Vorliebe für Kapellen. Die besten natürlich. Zu Jahresanfang 1888 spielte hier zur Fastnacht sogar die Militärkapelle aus Königgrätz (Hradec Králové)! Zásada war wieder das Paradies auf Erden. Den Sasadlern ging es so gut, dass sie sich sogar ein eigenes Häuschen leisten konnten, gut, nur eine gezimmerte Hütte, aber immerhin. Davon konnten sich die benachbarten deutschen Glasmacher anderswo im Isergebirge nur träumen lassen. Und – was denken Sie? Ende der 80er Jahre, die Mode wandelt sich wie die Blätter im Herbst und Glasperlen kamen aus der Mode – herzlich willkommen, Sauersuppe mit Schwarzbrot!
Zum dritten mal stehen wir vor der St.-Prokop-Kapelle. Ein paar Meter weiter fahren Autos vorbei. Egal, dass Ostern ist. Wie ging es wohl den Glasperlen aus Zásada im ganzen 20. Jahrhundert? Haben sie bis heute überlebt? Na klar! Gleich nach dem 1. Weltkrieg und der Gründung der Republik bestand ein solch gewaltiges Interesse an der tschechoslowakischen Bijouterie, dass sie sich mit vollen 11 Prozent am ganzstaatlichen Exportvolumen beteiligte! Und wieder kam Glas- und Stickperlen, aber auch fertiger Bijouterie die Hauptrolle zu. Wieder einmal ist Zasada das reinste Paradies. Und wieder wirft mit Geld um sich…schade um jedes Wort. Eines ist offensichtlich – die Jahrhunderte vergehen, der Mensch bleibt derselbe. Ende der 20er Jahre. Die Krise. Der erneute Fall. Aber die Glasperlen aus Zásada scheinen einfach alles zu überleben. Als nach dem 2. Weltkrieg die Konjunktur einsetzt, ist die Situation trist, denn der „rote Februar“ macht alle arm. Aber auch das neue Regime braucht das Prestige und die Einnahmen aus der tschechischen Bijouterie. Und so werden in Zásada weiter Bissel gehackt und Perlen geschliffen. Klar, die neue Zeit verlangt nach mehr, als nur kleinen Werkstätten und so herrscht „auf der grünen Wiese“ am Ortsrand emsiger Baubetrieb. Als wäre hier ein Ozeandampfer gestrandet, der im Oktober 1964 seine ersten Passagiere – Hacker und Schleifer – an Bord nimmt. Nur ein paar Schritte von Šourek‘s Kapelle entfernt steht die Fabrik von Zasada. Mehr als 20 Jahre lang produziert hier das Unternehmen Preciosa Ornela. Was? Also diese Frage war nicht ernst gemeint…